Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche

Nachricht 31. Januar 2024

Am 25. Januar 2024 hat der Forschungsverbund ForuM das Ergebnis seiner dreijährigen Recherche zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und der Diakonie in Deutschland veröffentlicht. Und das Ergebnis ist für die Evangelische Kirche niederschmetternd: Mindestens 2225 Betroffene und 1259 mutmaßliche Täter aus den Jahren von 1946 bis heute werden dokumentiert. Und dabei konnten nicht einmal alle Personalakten eingesehen werden, so dass der Schluss nahe liegt, dass die Zahlen deutlich höher sind.

Weitere Informationen zu dem Thema finden Sie auf der Seite der EKD https://www.ekd.de/Missbrauch-23975.htm - oder auch auf der Internetseite der Hannoverschen Landeskirche https://praevention.landeskirche-hannovers.de/

Auf den Informationsseiten von ForuM finden Sie den kompletten Inhalt oder auch eine Zusammenfassung der Studie.

Auch wir als Ludgerkirchengemeinde sind schon länger mit dem Thema Prävention beschäftigt. Insbesondere im Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Gefährdung werden Mitarbeitende in Schulungen für das Thema sexualisierte Gewalt sensibilisiert und es werden verbindliche Regeln im Umgang miteinander abgeschlossen. Derzeit werden in der gesamten Landeskirche, also auch in allen Einrichtungen und Gemeinden noch einmal neu Schutzkonzepte entwickelt, die vor allem auch eine Risikoanalyse vor Ort beinhalten.

Persönliche Erklärung von Pastor Martin Specht im Gottesdienst am 28. Januar 2024

Ich – und sicher ganz viele Menschen in unserem Land sind über das Ausmaß der in der Studie recherchierten Mißbrauchsfälle entsetzt – zumal deutlich ist, dass es immer noch eine große Zahl von Fällen gibt, die nicht erfasst, nicht bekannt, oder gar nicht erst angezeigt sind.

Ich bin entsetzt darüber, zu hören, dass vom Mißbrauch Betroffene über Jahrzehnte nicht gehört wurden, dass es auch in unserer Kirche Strukturen gab oder womöglich immer noch gibt, die eher die Täter oder die Institution Kirche als die Opfer geschützt haben.

Ich bin entsetzt und beschämt darüber, dass also auch ich Teil des Systems evangelische Kirche bin, in dem Menschen, Kinder und Jugendliche allzumal, sexualisierte Gewalt erlebt haben und womöglich noch immer erleben.

Ja, es hat mich im ersten Moment schwer angefochten, heute hier im Talar den Gottesdienst zu leiten. Ich habe mich gefragt, wie können Menschen, wie kann die Gemeinde Männern, denn die Täter waren und sind vor allem Männer, wie kann die Gemeinde also Männern im Talar derzeit begegnen, wenn auch sie in ihrem Vertrauen grundsätzlich erschüttert sein?

Die Anwort darauf weiß ich derzeit nicht. Es kann ja auch immer nur eine ganz persönliche sein. Eine Antwort kann sich wohl auch erst vorsichtig in Begegnungen entwickeln. Gerne möchte ich von Menschen hören, was sie bewegt, auch von ihrem Zorn und ihrer Enttäuschung. – Ja, und ich will auch Rechenschaft ablegen. Möchte erzählen, was wir tun oder auch schon seit längerem getan haben, um unsere Kirche zu einem Schutzraum zu machen. – Es ist ja nicht so, dass dieses Thema sexueller Mißbrauch uns nicht schon länger bekannt ist – und uns umtreibt und auch antreibt, sensibel zu werden und hin zu sehen und hin zu hören. Schon seit Jahren sind wir mit unseren Jugendlichen Teamern im Gespräch, was nicht passieren darf, worauf sie achten müssen, was nicht geschehen darf. Längst habe ich z.B. bestimmte Spiele, die ich in meiner Ausbildung noch als pädagogisch wertvoll gelernt habe, aus meinem Repertoire entfernt, weil sie die Balance zwischen Nähe und Distanz nicht wahren.

Gerne möchte ich mit Ihnen allen daran arbeiten, alte Fehler zu erkennen und ggfs. Strukturen zu ändern.Gerne möchte ich mit Ihnen daran arbeiten, Betroffene zu unterstützen, und immer wieder neu Wege zu suchen, wie wir unsere Kirche zu einem Zufluchtsort werden lassen können, in dem Menschen sich wirklich sicher fühlen können – und potentielle Täter – oder auch Täterinnen keine Chance haben.

Ich freue mich, wenn wir darüber ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben können. Bitte sprechen Sie uns gerne dazu an.

Stellungnahme der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers

Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche

Seit Ende 2020 untersuchte der interdisziplinäre Forschungsverbund ForuM im Auftrag aller 20 evangelischen Landeskirchen in Deutschland die  Strukturen und Bedingungen, die sexualisierte Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie begünstigen. Am 25. Januar stellten die Forschenden die Ergebnisse ihrer dreijährigen Tätigkeit in Hannover vor.

Forschende verschiedener Universitäten und Hochschulen in Deutschland haben in fünf Teilprojekten und einem Metaprojekt die Erfahrungen von Betroffenen, die institutionellen Bedingungen von Gewaltausübung in evangelischer Kirche und Diakonie, den politischen und kulturellen Kontext sowie das Ausmaß der Übergriffe und die bisherige Aufarbeitung in den Blick genommen.

Die Studie stellt fest, dass sexualisierte Gewalt in evangelischen Zusammenhängen nicht reduzierbar ist auf lokale oder zeitliche Umstände. Vielmehr sei in allen Arbeitsfeldern von Kirche und Diakonie ein hohes Ausmaß sexualisierter Gewalt festgestellt worden. Die erlebte Gewalt habe in vielen Fällen schwere physische, psychische und soziale Folgen gehabt; Betroffene hätten zudem die Erfahrung machen müssen, von der Kirche alleingelassen oder aus sozialen Zusammenhängen verdrängt zu werden – insbesondere dann, wenn sie nicht zu Vergebung und Kooperation bereit waren.

Die ForuM-Studie zeigt eine Reihe von evangelischen Besonderheiten auf, die sexualisierte Gewalt begünstigen und die Aufarbeitung erschweren. Dazu gehören unklare Zuständigkeiten in den evangelischen Kirchen, der übermäßige Wunsch nach Harmonie, eine fehlende Konfliktkultur sowie die Selbsterzählung der eigenen Fortschrittlichkeit. Auch eine Grenzen- und Distanzlosigkeit im Umgang miteinander und das Selbstbild von „Geschwisterlichkeit“ hält die Studie als begünstigende Bedingungen fest.

Klare Regeln zum Umgang mit bekannten Fällen sowie eine systematische Dokumentation fehlten bisher; Betroffene berichteten den Forschenden zudem von bewusster Verschleierung auf institutioneller oder Mitarbeitenden-Ebene.

Mit Blick in die Zukunft gibt die ForuM-Studie eine Reihe von Empfehlungen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Dabei müssten die spezifisch evangelischen Bedingungen in allen Bemühungen berücksichtigt werden; zudem sei eine breite öffentliche Debatte und Kommunikation sexualisierter Gewalt unter Einbeziehung der Betroffenen unerlässlich. Schutzkonzepte müssen für alle Einrichtungen in Kirche und Diakonie und für alle relevanten Bereiche passgenau entwickelt oder bestehende Schutzkonzepte angepasst werden. Auch in der Ausbildung von kirchlichen Mitarbeitenden muss die Sensibilisierung für das Thema Sexualisierte Gewalt eine wesentlich größere Rolle spielen als bisher.

In öffentlichen Reaktionen standen vielfach die ermittelten oder hochgerechneten Fallzahlen im Fokus und die Aussage der Forschenden, die Landeskirchen hätten ihnen nicht ausreichend Aktenmaterial zur Verfügung gestellt. Wie es zu dieser Fehleinschätzung hat kommen können, werden die Landeskirchen klären. Fakt ist: Keine Kirche hat Akten zurückgehalten. Gleichwohl: Alle Landeskirchen sind bereit, all jene Aktenbestände zu erfassen, die der Forschungsverbund für die Ermittlung von validen Gesamtzahlen angemahnt hatte.

Von sexualisierter Gewalt Betroffene, die an der Studie mitgearbeitet haben, und auch die Forschenden selbst hoben hervor, dass sie den Blick stärker auf die Ergebnisse der Studie richten möchten, die sich mit den evangelischen Strukturen und Rahmenbedingungen beschäftigen: Was hat Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in der Kirche begünstigt und wie kann das in Zukunft so weit wie möglich verhindert werden? Wie können Strukturen möglichst so verändert werden, dass Betroffene schnell und unkompliziert die Unterstützung bekommen, die sie benötigen?

Bitte an Betroffene, sich zu melden

Die evangelischen Kirchen bitten Betroffene, die sexualisierter Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie erlitten haben, sich bei einer nichtkirchlichen oder kirchlichen Anlaufstelle zu melden. Das bundesweite „Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch“ ist unter Telefon 0800 2255530 oder auf https://www.hilfe-portal-missbrauch.de erreichbar; Kontakte der kirchlichen Stellen sind auf der Seite praevention.landeskirche-hannovers.de aufgeführt.

Eine gut lesbare Zusammenfassung der Ergebnisse und Empfehlungen der ForuM-Studie steht auf https://www.forum-studie.de zum Download zur Verfügung.

Quelle: Pressestelle der Landeskirche Hannovers, Stand: 05.02.2024

Stellungnahme der Regionalbischöfin Sabine Schiermeyer

Am 25. Januar ist die ForuM-Studie „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland erschienen.

Diese Studie wird unsere Kirchengeschichte, unsere persönliche und die der Institution, in ein Vorher und Nachher teilen. Denn sie lässt die zu Wort kommen, die wir so oft nicht ausreichend gehört haben: Die Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Sie haben großes Leid erfahren.

Dafür, dass sie zur Mitarbeit an der Studie bereit waren, gebührt ihnen großer Respekt und Dank. Was nun auf mehr als 800 Seiten dokumentiert steht, räumt mit unseren Mythen auf und bringt unser Selbstbild zum Einsturz. Unser Selbstbild, dass in unseren Räumen sexualisierte Gewalt keinen Platz hat und Null-Toleranz gegenüber den Tätern gilt. Dass wir flache Hierarchien haben, sexualisierte Gewalt nur in Einzelfällen vorkommt und wir schon weit sind in Prävention und Partizipation Betroffener.

Stattdessen zeigt die Studie, dass es bis heute wirkmächtige Strukturen und Faktoren in der evangelischen Kirche gibt, die die Anbahnung und Durchführung von sexualisierter Gewalt unterstützen: Ein ungeklärtes Verhältnis von Nähe und Distanz und ein übergroßes Harmoniebedürfnis, die zugleich machtvolle Rolle des Pfarramts und patriarchaler Strukturen (die Täter waren fast ausschließlich männlich), ein diffuser Seelsorgebegriff, undurchsichtige Verantwortlichkeiten durch die Vielzahl der Landeskirchen und Körperschaften sowie das Interesse der Institution, sich selbst zu beschützen. In ihrem positiven Bild von Kirche war für viele – auch für mich – schwer vorstellbar, was geschah und geschieht. Es spielte den Beschuldigten in die Karten, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Und so wurde, wenn eine betroffene Person endlich über die erlittene Gewalt sprach, manchmal nach jahrzehntelangem Schweigen, bagatellisiert, verschwiegen, verschleppt, gedroht. Und den Tätern sollte dann auch noch vergeben werden.

Ich bin seit bald 30 Jahren Pastorin in dieser Kirche. Ich habe als Kind und Jugendliche wunderbare Erfahrungen in und mit dieser Kirche machen dürfen. Ohne eigenes Verdienst – ich habe einfach Glück gehabt. Aber mit mir, neben mir sind andere verwundet worden, ohne dass ich das wahrgenommen habe. Konnte ich es nicht sehen, wollte ich es nicht? Und sind meine persönlichen guten Erfahrungen noch etwas wert, jetzt, wo wir sehend geworden sind?

Ich und so viele mit mir sind doch einmal angetreten, um Leben und ein vertrauensvolles Miteinander zu ermöglichen – warum ist das trotzdem zu oft nicht gelungen?

Ich möchte Fehler wahrnehmen und Schuld anerkennen. Ich möchte, dass die Kirche, und die bin ich auch mit meinem Gesicht und meinem Leben, Buße tut. Dazu gehören der ehrliche Blick auf Fehler und Versäumnisse in der Kirche, das Klären der Verantwortung und die Umsetzung von Konsequenzen. Dazu gehören das Hören und Ernstnehmen der Betroffenen und ihre echte Beteiligung an allen Schritten, die jetzt zu tun sind. Eine angemessene Entschädigung und die Sorge für Prävention und Aufarbeitung auf allen Ebenen. Wir fangen nicht bei Null an, einiges ist begonnen: Wir haben eine gut aufgestellte Fachstelle und Interventionspläne. Viele Kirchenkreise haben oder werden Schutzkonzepte zur Prävention sexualisierter Gewalt verabschieden. Die Schulungen der Mitarbeitenden laufen an. Die gemeinsame Vereinbarung zwischen der Evangelische Kirche in Deutschland, der Diakonie und der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs ist unterschrieben; die regionalen Aufarbeitungskommissionen sind auf dem Weg.

Die Studie mag als Gutes bewirken, dass die Notwendigkeit dieser Maßnahmen allen noch einmal deutlich geworden ist. Denn es ist auch noch viel zu tun, um alte Strukturen und eingeübte Denkmuster aufzubrechen.

Wir werden als Kirche daran gemessen werden, mit welcher Konsequenz und wie schnell wir dafür sorgen, dass wir sind, was wir sein wollen: Ein sicherer Raum, in dem Menschen etwas von dem großen Ja Gottes zu ihnen erfahren.